Engelbert Humperdinck in der Villa „Meeresstern“

Eine besondere, öffentliche Aufmerksamkeit wurde im 100. Todesjahr einem eher entlegenen Ort zuteil, der vorher nicht gerade im Zentrum musikalischer Aufführungspraxis oder musikwissenschaftlicher Humperdinck-Forschung stand: Humperdinck war zwischen 1902 und 1916 immer wieder zu Gast auf der Insel Usedom. Für ein wieder erwachtes Interesse daran haben zwei gesorgt, die bisher kaum als Experten spätromantischer Musik in Erscheinung getreten sind: die Interior-Designerin Dr. Katja Kessler (KatjaKesslerKreation) und ihr Ehemann, der Publizist Kai Diekmann.

Sie entdeckten, dass ihr Insel-Refugium bereits vor über hundert Jahren von Engelbert Humperdinck als erholsames Ferien-Domizil sowie beschauliches Rückzugsidyll zum Komponieren geschätzt wurde. Von der Hauptstadt Berlin, Humperdincks damaligem Wohnort, war Usedom in gut drei Stunden mit dem Zug zu erreichen.

 

Die renovierungsbedürftige Villa im Seebad Heringsdorf machten die neuen Besitzer zu ihrem privaten Tuskulum, immer in enger Abstimmung mit dem Denkmalschutz.

 

Ein gemütliches Familiendomizil für alle Tage mit regionaltypischen Materialien wie Kiefernholzdielung und roter Backstein Die Türen sind aus alten Fußbodendielen gearbeitet, über die schon Humperdinck lustwandelte.

 

Auf der Anhöhe Kulm vor dem Küstenwaldstreifen an der Ostsee mit ihrem breiten Sandstrand gelegen, erstrahlt der Bau aus der Mitte des 19. Jahrhunderts im Stil der historischen Bäderarchitektur in frischem Glanz. Katja Kessler hat den Baubestand nach innen in eine offene, lichte Raumgestaltung überführt. Rohes Mauerwerk und Vintage-Interieur betonen den Charakter der „Villa Meeresstern“ als Baudenkmal aus dem 19. Jahrhundert, wo die frühindustrielle Gründerzeit den Historismus pflegte. Außen wurde die Kubatur des Ursprungsbaus weitestgehend erhalten. Humperdinck würde sein Urlaubsquartier heute sicherlich sofort wiedererkennen.

 

Das teilweise unterkellerte Haus samt Remise auf gut 2100 Quadratmeter Boden mit einem eingetragenen Wegerecht von der Dorfstraße wurde zur DDR-Zeit mit gleich mehreren Wohnungen auf einer Grundfläche von ca. 140 Quadratmetern intensiv zur Ferienunterbringung genutzt. Stahlbeton in der Decke über dem Erdgeschoss, eingesetzt 1975, sollte die bedrohliche, weitere Ausbreitung des echten Hausschwamms von Giebel, Fachwerk, Sparren und Balken aus verhindern. Vier Jahre später wurde auch das Dach erneuert, mit DDR-typischen Preolitschindeln vom VEB Dachpappen- und Isolierstoffe Coswig. Auch neue Dachrinnen und Fallrohre wurden installiert. 1989 zur Wendezeit ließen die Besitzer das Gebäude komplett neu verputzen und mit Kunstharzfarbe (Alkyd) beschichten. Bis 1999 erfolgten ständig weitere Ausbau-, Erhaltungs- und Verschönerungsmaßnahmen.

 

Mit der Übernahme des Hauses durch Katja Kessler und Kai Diekmann wurden Gebäudedetails wie Balkenköpfe, Fassadenstuck, Fenster und Innentüren dokumentiert, um originalgetreu ergänzt oder ersetzt zu werden. Das Feldsteinmauerwerk des feuchten Kellers wurde teilweise von außen freigelegt.

 

Heute ist das Haus innen im Erdgeschoss weit und luftig gestaltet, im Obergeschoss befinden sich Schlafzimmer und Bäder, der Fehlboden des Daches wurde entfernt, sodass die gesamte Dachhöhe optisch erlebbar ist.

 

Die äußere, historische Gestalt der „Villa Meeresstern“ mit dem vom Strand sichtbaren Prospekt wurde weitgehend originalgetreu erhalten. Die angrenzende luxuriöse Remise kann man heute für einen Ferienaufenthalt auf den Spuren Humperdincks anmieten.

 

Für das Seebad Heringsdorf ist die Restaurierung ein Glücksfall: Der eingewachsene, recht steil abfallende Hang wurde zur Strandpromenade freigelegt und in Anpassung an die gewachsene Umgebung neu bepflanzt. Das eindrucksvolle, aber dennoch schlichte Haus ist von der Promenade aus nun wieder gut zu sehen, die Giebelinschrift deutlich zu erkennen. „Villa Meeresstern“: ein repräsentatives Logierhaus, in das Engelbert Humperdinck sich für mehrere, nachweisbare Inselaufenthalte einquartiert hat. Darunter sind sowohl Kurzbesuche wie die am 31. Juli und 6. August 1902 auf der Durchreise nach und von Swinemünde oder zwei Tage am 4./5. Oktober 1907 in Heringsdorf. 1902 befand sich Humperdinck auf der Zielgeraden zur Uraufführung von Dornröschen am 12. November im Frankfurter Opernhaus. 1907 beschäftigte Humperdinck sich gerade mit dem Kompositionsauftrag zur Bühnenmusik von Was Ihr wollt im Auftrag von Max Reinhardt; die Berliner Uraufführung fand am 17. Oktober statt. Vom 19. bis zum 22. Juli 1913 waren Engelbert, Ehefrau Hedwig und Tochter Senta laut entsprechender Tagebucheinträge wieder an der Ostsee.

 

Danach ist bis auf einen kurzen Tagesausflug nur noch eine Usedom-Reise 1916 verbürgt: In dem Jahr verlor Humperdinck nach 24 Jahren Ehe seine geliebte Frau Hedwig, die sich, wie er selbst auch, eine Lungenentzündung zugezogen hatte, als beide ihren Sohn Wolfram in seiner Garnison in Bruchsal besuchten. Ein halbes Jahr später, am 9. August, machte der Tod von Schwester Adelheid, Librettistin von Hänsel und Gretel, das Humperdincksche „annus horribilis“ komplett. Im angestammten Quartier am Kulm bei der Familie Greulich‘, nachzulesen im Tagebuch für den 12. September 1916, und im Kurhotel Quisisana“ (die Übersetzung der italienischen Phrase „qui si sana“ bedeutet etwa „Hier wird man geheilt“) suchte der Witwer danach Abstand von den schweren Schicksalsschlägen.

 

Eine Postkarte Engelbert Humperdincks von 1916, heute im Besitz Kai Diekmanns, war an Sohn Wolfram adressiert, der als Gefreiter der Heimatreserve Quartier in Potsdam bezogen hatte. Wolframs damalige Potsdamer Postadresse in der Türkstraße 8 liegt übrigens nur gut zwei Kilometer entfernt vom Hauptwohnsitz der Familie Kai Diekmanns am Heiligensee in der brandenburgischen Landeshauptstadt.

Im Text der Postkarte bezeichnet Humperdinck den Ort seiner zahlreichen Aufenthalte als „gelobtes Land“. An der Karte mit dem Absender Am Kulm 1″ ist bemerkenswert dass von der Vorderseite mit dem Küstenmotiv „von uns dreien“ gegrüßt wird. Der Hintergrund: neben Tochter

Senta war auf Usedom wohl auch Schwägerin Olaa Tayer anwesend, „eine Frau von eigensinnig-starrem Naturell“ wie Sohn Wolfram in der Biograñe seines Vaters schreibt Olga kümmerte sich nach Hedwigs Tod als Haushälterin um Engelbert Humperdinck, der mit seiner Frau eine entscheidende Kraft in seinem Leben verloren hatte.

Kehren wir nun auf das Jahr 1906, als Engelbert Humperdinck mit Frau Hedwig und Tochter Senta das Logierhaus der Familie Greulich in Heringsdorf auf Usedom ausgesucht hatte, um hier vom 6. bis zum 12. September für einen Arbeitsaufenthalt Quartier zu nehmen. Als der lukrative Auftrag zur Schauspielmusik für Shakespeares Sturm erteilt war, mochte sich der um Einfälle ringende Komponist anscheinend nicht mit gedanklichen Ausflügen in nur imaginierten Sturmwelten begnügen – und wählte Usedom als authentischen Inspirationsort aus. Die Insel, der Wald, das Meer: Usedom schien ihm die perfekte Kreativkulisse für musikalische Shakespeare-Fantasien zu sein.

Usedom war für die Humperdincks von Berlin aus gut mit dem Zug der Königlich-Preussischen Staatseisenbahngesellschaft zu erreichen. Vom Stettiner Bahnhof in Berlin aus bestand ein regelmäßiger Bäderverkehr, noch heute ist auf der dunklen Klinkerfassade am Usedomer Bahnhofsgebäude die historische Inschrift zu lesen: „Berlin 179,1 km“.

Neben der Distanz zum Berliner Trubel war Humperdinck anscheinend eine echte Meereserfahrung wichtig: Zu groß schien ihm wohl die Gefahr, musikalisch über tradierte Küsten- und See-Klangbilder der Romantik und vergangener Epochen nicht wirklich hinausweisen zu können. Schließlich sind von Henry Purcell bis zu Felix Mendelssohn Bartholdy oder Richard Wagner berühmte Beispiele musikalischer Meer-, Wind- und Sturmszenen bekannt, die sich für nachfolgende Komponisten nur schwer verdrängen lassen. 1905, im Jahr vor Humperdincks Arbeitsaufenthalt hatte Usedom Schlagzeilen gemacht bei einer historischen Neujahrssturmflut, die damals weite Flachküstenstreifen durchbrochen hatte. Die Wahrnehmung der Insel als bisweilen „stürmisch“ war also keine Shakespeare’sche „Luftgeist“-Fantasie.

Insgesamt war der prestigeträchtige „Sturm“-Auftrag nicht ohne kulturpolitische und ökonomische Delikatesse: Schließlich sollte mit der Berliner Inszenierung des Shakespeare-Werks das Neue Schauspielhaus am Nollendorfplatz eröffnet werden. Der Intendant Alfred Halm, ein gebürtiger Wiener und ehemaliger Schauspieler mit dem Rollenfach „jugendlicher Liebhaber“, hatte sich wahrscheinlich den Komponisten Engelbert Humperdinck als weltberühmten Gewährsmann musikalischer Exzellenz gesichert. Dieser Marketing-Coup weckte allerdings auch gewaltige Erwartungen. die am Ende nicht für alle Beobachter erfüllt werden konnten. Es mag auch an Humperdincks übervollem Terminkalender gelegen haben, dass sich die Komposition der „Sturm“-Musik bis kurz vor der Premiere im Theater hinzog. Die Herausgabe eines vielbeachteten Volksliederbuchs fällt ebenso in das Jahr 1906 wie die Komposition der Bühnenmusik zur Shakespeare-Romanze „Ein Wintermärchen“ und die Neufassung der Ouvertüre zur „Heirat wider Willen“. Außerdem ging während der Komposition des „Sturm“ der Auftrag zu „Bübchens Weih-nachtstraum“ ein, den Humperdinck in seiner passionierten Art nicht einfach links liegen lassen konnte, sodass auch dieses Werk seine kreative Energie ab Juni 1906 zusätzlich in Anspruch nahm.

Humperdinck reiste am 6. September 1906 zusammen mit seiner Frau Hedwig und Tochter Senta an. Dies geschah bei schlechtem Wetter – oder wie es im Tagebuch heißt „(Regen!) Heringsdorf“. Nach einem Mittagessen ging es für die Familie „mit Motorboot nach Bansin“, und Humperdinck sah hier „hübsche Wohnungen am Wald“. Danach kehrten sie „zurück nach Heringsdorf“. Humperdinck notiert: „Wohnung gefunden / Am Culm 1 (Greulich) Aussicht aufs Meer.“ Das Abendessen nahm die Familie an der Promenade im „Hôtel Lindemann“ ein. Danach wurde mit der Droschke das restliche Gepäck abgeholt. Zuletzt heißt es: „8 1⁄2 Senta sehr müde. Allein im Mondschein zum Casino […]“. Ein Spaziergang im Mondenschein: Der Romantiker Humperdinck war auch hier offen für die Im- pressionen, die typisch für seine Epoche standen.

Der nächste Tag begann mit einem „Frühstück auf der Terasse“, das auch heute im renovierten Haus wieder genauso möglich ist. Bis zum Mittagessen wurde gearbeitet: „Sturmskizzen fortgesetzt“ heißt es in großen Buchstaben im Tagebuch. Dezidiert arbeitete er hier an der Stelle des Zaubergastmahls, von ihm „Zaubermahl“ abgekürzt.

Mittags war die Familie„bei Czuwalski“, trank danach noch Kaffee, bevor sich Humperdinck abermals dem „Zaubermahl“ widmete. Für den Nachmittag und Abend heißt es: „Mit H[edwig] & S[enta] nach Neuhof (vergebens). […] wie- der zu Czuwalski (Abendessen).“ Um 21 Uhr trank er dann noch allein einen Kaffee im Kaiserhof („9 [Uhr] Café Kaiserhof (allein))“. Der Morgen des 8. September war „schön warm“ und Humperdinck unternahm einen „Spaziergang (allein) nach Bansin“, die Strecke dauert bei entspanntem Gehen etwa eine halbe Stunde. Bis zum Mittagessen arbeitete er wieder am Sturm und diesmal am „Erntelied“ des Nymphenchors. Im Anschluss ging es erneut zu Czuwalski. Es folgten eine Kaffeepause im Kaiserhof und danach weitere Arbeiten am Nymphenchor, bevor es zu Czuwalski ging. Noch gegen 21 Uhr ein Kaffee im Kaiserhof zum Ausklang des Tages: Einschlafprobleme hat der fleißige Komponist allem Anschein nach nicht gehabt.

Humperdinck begann den Tag des 9. September um 6.45 Uhr mit einem„Bad (allein)“ im Meer. Eher handelte es sich hier wohl um eine Kuranwendung im Sinne Kneippscher Kreislaufbelebung durch Waten im Wasser. Das sportliche Schwimmen im Salzwasser war damals nicht allgemein üblich, erst nach dem 1. Weltkrieg häufen sich die Bilder von Gästen in Badekleidung, die sich ganz ins Wasser wagen. Auch die Freikörperkultur gewinnt in dieser Zeit als junge Naturfreunde-Bewegung an Zulauf.

Nach dem Bad widmete sich Humperdinck dem Komponieren von „Prospero‘s Entzauberung“. Den Mittag verbrachte die Familie einmal mehr bei Czuwalski. Nach dem Essen, d. h. ab 13 Uhr, hieß es: „Mit H[edwig] & S[enta] nach Ahlbeck spaz.[iert]. Mit Droschke zurück zum Strandhotel. Schlechter Kaffée [sic]“. Hintergrund dieser oft kolportierten Gourmetkaffeekritik: die Kaffeezubereitung war damals nicht standardisiert, erst 1908 meldete Melitta Bentz ihren ersten Kaffeefilter zum Patent an und es dauerte Jahre, bis die Gastronomie nachzog. Kaffee wurde bis dahin einfach „aufgegossen“: Auf das mehr oder weniger fein gemahlene Kaffeepulver gab man sprudelnd kochendes Wasser. Nach fünf Minuten hatte sich der „Kaffeeprütt“ am Boden abgesetzt und es konnte eingeschenkt werden. Es liegt auf der Hand, dass dabei Geschmacksschwankungen vorprogrammiert waren, außerdem war Humperdinck sicher von der hoch entwickelten Berliner Kaffeehauskultur verwöhnt

Nach dem schlechten„Kaffée“ widmete er sich wieder der „Entzauberung (Prosperos)“, bevor es für den Abend im Tagebuch abschließend heißt: „In Treptow’s Weinrestaurant/ Mit H[edwig] im Strandcasino“.

Die Beschäftigung mit der Figur des Zauberers Prospero mag dem Komponisten besonders gelegen zu haben. War er nicht auch ein wenig der belesene, wirkmächtige Zauberer auf einer kleinen Insel mit dem freien Blick nach innen – auf die Natur der Menschen?

Der Künstler als Zauberer ist von der Renaissance bis heute ein schillernder Topos geblieben, in Musik, bildender Kunst – und in der Literatur. Etwa in „Mario und der Zauberer“ mit dem Schauplatz Italien am Thyrrenischen Meer: 1930 schrieb der „große Zauberer“ Thomas Mann, mit seinem Haus in Nidden an der kurischen Nehrung übrigens auch ein ausgewiesener Liebhaber der Ostsee, dieses Stück Weltliteratur, das die Frage nach der Verführbarkeit und Willensfreiheit in bedrohter Zeit neu auslotet.

Aus Shakespeares Spiel mit Willkürherrschaft, Dämonen, Geistern und Zauberern ist fern spätromantischer Musikreflexion bei Thomas Mann Ernst geworden. Humperdincks Sohn Wolfram konnte später den verführerischen Kräften der Nazi-Ideologie nicht widerstehen und wurde NSDAP-Mitglied, Briefe im Kunstbetrieb signierte er mit „Heil Hitler“. Sein Vater schrieb eine Generation zuvor noch große Musik zu Textvorlagen von Heinrich Heine und Elsa Bernstein. Humperdinck war der angesehene Lehrer und freundschaftliche Förderer großer jüdischer Komponisten von Leo Blech über Friedrich Hollaender bis Kurt Weill.

Am 10. September um 6.45 Uhr ging Engelbert Humperdinck„allein im Buchenwald spaz.[ieren]“ und machte sich danach an den „Schlusschor u.[nd] Epilog“. Mittags war die Familie dieses Mal im „Hôtel Vineta“, bevor es „mit H[edwig] & S[enta] nach Bansin“ ging. Sie kehrten in einem „Strandrestaurant“ ein, waren noch ein wenig im Wald und kehrten dann „mit Motorboot zurück“. Am Abend noch „mit H[edwig] allein in Strandcasino“.

Interessant ist der Blick auf die Geschichte des Hotelnamens „Vineta“ vor dem Hintergrund der „Sturm“-Komödie. Humperdinck dürfte diese Sage nicht entgangen sein, stützt sie

doch wie das historische Usedomer Flutgeschehen ein Jahr zuvor die Bedeutung der Insel als dankbare Quelle kreativer Vorstellungskraft. Die sagenumwobene Stadt Vineta soll bei einem Sturmhochwasser untergegangen sein. Der Grund dafür beim sogenannten„Atlantis der Ostsee“: Hochmut und Verschwendung der Bewohner. Drei Monate, drei Wochen und drei Tage vor dem Verschwinden der Stadt erschien ihre Silhouette wie eine maritime Fata Morgana mit allen Häusern, Türmen und Mauern – als ein farbiges Lichtgebilde. Die Stadtältesten riefen dazu auf, alles zu verlassen, denn sehe man Städte, Schiffe oder Menschen doppelt, so bedeute das immer den Untergang. Keiner beachtete auch die letzte Warnung: eine Fee tauchte vor der Stadt aus dem Meer auf und rief dreimal mit hoher, schauerlicher Stimme: „Vineta, Vineta, du rieke Stadt, Vineta sall unnergahn, wieldeß se het väl Böses dahn“, auf hochdeutsch: „Vineta, Vineta, du reiche Stadt, Vineta soll untergehen, weil sie viel Böses getan hat.“

Bis heute sollen zu besonderen Zeiten Glocken aus den Tiefen des Meeres zu hören sein, und tatsächlich kann man gelegentlich mit viel Phantasie im Heulen des Windes und Toben des Meeres den fernen Glockenklang erahnen.

Am 11. September um 6.45 nahm Humperdinck wieder ein Bad, doch dieses Mal war es „sehr stürmisch“. Wahrscheinlich hat der Komponist sich am Aufgang der Sonne an diesem Tag um 6.30 Uhr orientiert und danach seinen Wecker gestellt. Zwischen Hoch- und Niedrigwasser beträgt der Unterschied bei Heringsdorf etwa 80 cm. Bei einer Wassertemperatur von damals 15 – 16 Grad in 3 Meter Tiefe gemessen stand Humperdinck wahrscheinlich bis zu den Knien in den auslaufenden Wellen am Strand unterhalb der Villa Meeresstern.

Nach Arbeiten an„Tanz 15 & Ouverture“ ging es mit„H[edwig] & S[enta] nach Bansin“, erst ins Strandrestaurant und danach ins Dorf. Er traf sich hier mit„H. Zöllner aus Leipzig“ und ging „mit ihm auf dem Langenberg durch den Wald. Oben Kaffee“. Heinrich Zöllner war wie schon sein Vater Carl Friedrich einer der bedeutendsten Repräsentanten des populären, vaterländischen Männerchorwesens seiner Zeit. 1898 wurde er zum königlichen Universitätsmusikdirektor in Leipzig und Dirigent des Universitäts-Sängervereins berufen, seit 1903 war er auch Musikredakteur am Leipziger Tageblatt und ging 1907 nach Berlin. Auch Zöllner hatte eine Märchenoper geschrieben: Die versunkene Glocke nach einer literarischen Vorlage von Gerhart Hauptmann, der ja, wie wir wissen, mit der Familie Humperdinck gut befreundet war.

Es folgte der„Rückweg von Bansin nach Heringsdorf“, den Humperdinck umschreibt mit „schön, aber sehr windig“. Am Abend heißt es kurz und knapp: „Einpacken“, bevor sich Humperdinck um 20.30 Uhr abermals „im Strandcasino mit Zöllner“ traf und dort noch bis 22.30 Uhr blieb. Am 12. September 1906, dem letzten Tag des Aufenthalts, stand man früh auf und trat bereits am Vormittag mit dem „Schnellzug“ der Heimweg an. Humperdinck besuchte in Berlin angekommen eine Probe des Wintermärchens (mit seiner Bühnenmusik), die er aber als „sehr unbefriedigend“ empfand.

Humperdinck konnte die Schauspielmusik zum „Sturm“ nach weiteren Arbeiten einigermaßen fristgerecht abliefern, auch wenn er bis kurz vor der Premiere an Details der Komposition feilte. Am 25. Oktober 1906 fand dann die öffentliche Generalprobe statt, noch am Morgen desselben Tages um 9.00 Uhr wurde ein Intermezzo geprobt, so Humperdincks Tagebuch, dem er auch anvertraute, dass die Aufführung unter Hofkapellmeister Paul Prill nur „mäßige Wirkung“ zeigte. Prills Enkel Herbert Paris war übrigens später lange Jahre Intendant der Hamburgischen Staatsoper.

Humperdinck jedenfalls fuhr sofort, nachdem der Vorhang gefallen war, um 23.30 nach Hause und trank seinen Premierensekt privat „bis 2 Uhr“. Am 15. November sah er zusammen mit Siegfried Wagner im Neuen Schauspielhaus noch einmal drei Akte von Shakespeares „Sturm“ mit seiner Musik. Die beiden restlichen Akte schenkte er sich und dem Freund. Sie besuchten stattdessen für den Rest des Abends die Kammerspiele im Deutschen Theater. Hans-Josef Irmen resümiert: „Das Presse-Echo auf Humperdincks neues Werk war wohlwollend.“ Exemplarisch ist die kurze Würdigung unter den „Berliner Nachrichten“ der Zeitschrift „Signale für die Musikalische Welt“ von 1906: „Im Neuen Schauspielhause am Nollendorfplatz wird Shakespeares ,,Sturm“ mit einer eigens für diese Aufführung komponierten Musik von Humperdinck gegeben. Es ist eine feinsinnige, in einzelnen Teilen sehr charakteristische lllustration, die der in solchen Aufgaben besonders glück- liche Tondichter zu dem Märchen geliefert hat.“

Kurt Wolfgang Püllen hält in seiner von Kai Diekmann aus dem Archiv wieder hervorgeholten Dissertation von 1951 zur „Sturm“-Bühnenmusik fest, dass Shakespeares märchenhafte Komödie ohne Musik gar nicht aufzuführen sei und bescheinigt Humperdinck, mit seiner Musik das Sturmge- schehen „atmosphärisch“ nachvollzogen zu haben.

Heute zählen die Humperdinck-Schauspielmusiken – die 18 „Sturm“-Szenen bilden einen Höhepunkt des Genres – zu wichtigen Beispielen einer alten Musikform, die später in der Gattung Filmmusik aufgehen sollte. Über Tagebucheintragungen sind uns ja mehrere Kinobesuche des Komponisten überliefert, damals wurden die Stummfilme noch mit Live-Musik begleitet.

Humperdincks Erfindung des„musikalischen Sprechens“, in der ersten Fassung der „Königskinder“ von 1897 bereits eingeführt, wirkt auch in die Notation der Bühnenmusik für den „Sturm“ als Sprechtheateraufführung hinein. Später wurde diese Technik von Schönberg aufgegriffen und als neues Stilmerkmal des Sprechgesangs etabliert, zum Beispiel in den Gurre-Liedern, der „Glücklichen Hand“ und „Pierrot lunaire“.

Die „Sturm“-Vorstellungswelten von Wald, Insel und Meer: Humperdincks Usedom hat sich im Laufe der Jahrzehnte verändert, konnte aber sein ursprüngliches Gesicht bis heute in malerischen Küstenformationen mit atemberaubenden Ausblicken bewahren. Der Behauptungswille der Natur auf Usedom und eine auf den Schutz der Umwelt ausgerichtete Achtsamkeit der Inselbewohner erlauben bis heute den Blick zurück in die Blütezeit der sogenannten„Kaiserbäder“, in die Zeit Engelbert Humperdincks mit seiner auch von Usedom inspirierten Bühnenmusik zu William Shakespeares Zauberkomödie „The Tempest“ – „Der Sturm“, wahrscheinlich in der szenischen Anlage Shakespeares „musikalischstes“ Werk. An einer Stelle heißt es:

„Habt keine Angst. Die Insel ist voll von Gerauschen, Tonen und süßen Lüften, die erfreuen und nicht schaden. Manchmal summen mir tausend Instrumente um die Ohren, und manchmal Stimmen, die, wenn ich nach langem Schlaf erwachte, mich wieder zum Schlafen brächten; und dann, wenn ich träumte, öffneten sich die Wolken in Gedanken, und zeigten Reichtümer, bereit, auf mich herabzufallen, so dass, wenn ich erwachte, ich aufschrie, um geradewegs wieder zu träumen.“